von Uta

Vor aller Zeit tanzte die Göttin allein in der Dunkelheit des endlosen Raums und ihr Herz war erfüllt von Sehnsucht nach einem Gegenüber. Und mit der Macht ihrer Sehnsucht teilte sie sich selbst und brachte den Anderen hervor. Da standen sie einander gegenüber: das Helle und das Dunkle, der Tag und die Nacht, die Frau und der Mann, ergriffen von einem unbändigen Verlangen nach Vereinigung. Sie überließen sich den machtvollen Wellen ihrer Ekstase, um in den Zustand der Ganzheit zurückzukehren. So wurde der Same gelegt, aus dem die Welt entstand.“

 

Viele Schöpfungsmythen des modernen oder auch antiken Heidentums erzählen eine Geschichte, die der oben beschriebenen ähnelt. Die Entstehung des Lebens wird darin als Ergebnis der sexuellen Vereinigung des archetypischen Weiblichen mit dem archetypischen Männlichen betrachtet, mittels der die Polaritäten des Lebens zu etwas Umfassendem verschmelzen. Die verlorene Einheit wird wiederhergestellt und eine neue Welt kann aus der alten hervorgehen. Deshalb feierte man in einigen heidnischen Kulturen der Antike den Beginn der Wachstumsperiode mit der Vereinigung zwischen dem obersten Herrscher der (Stammes-) Gemeinschaft (sei er nun König, Priester oder beides) und der Göttin des Landes, die in Gestalt ihrer Priesterin zu ihm kam. Dadurch, so glaubte man, werde Wachstum und Fruchtbarkeit in der Natur gefördert und das Überleben der Menschen im kommenden Winter gesichert.

 

Sexualität wird demnach im Heidentum als wesentlicher Motor für die sich immer wieder vollziehende Erneuerung des Lebens angesehen. Deshalb ist die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau in den heidnischen Religionen eine heilige Handlung. Sie ermöglicht es den Menschen mit den schöpferischen Urkräften des Lebens in Verbindung zu treten, für eine kurze Zeit eins mit ihnen zu werden und dabei die Trennung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zwischen Alltagsrealität und Anderswelt aufzuheben. Frau und Mann als Träger der Kräfte von Göttin und Gott kehren in der Ekstase ihrer Umarmung zum Urquell des Seins zurück, der jenseits aller Polaritäten liegt, um erneuert aus ihm hervor zu gehen. Sie erfahren das Heraustreten aus der Enge ihrer eigenen Grenzen, indem sie sich rückhaltlos den Kräften des Lebens überantworten und feiern auf diese Weise ein Fest zu Ehren des Großen Mysteriums der Existenz. Die erneuernde Kraft der Sexualität zeigt sich aber nicht nur in der Rückbindung an den Urgrund des Seins. Sie offenbart sich ebenso in dem neuem Leben, das auf dem Höhepunkt der Ekstase durch sie hervor gebracht werden kann. Im Bauch der Göttin - und ihrer Repräsentantinnen, der Frauen - verbinden sich Same und Ei zu neuer Einheit, um sich auf wundersame Weise in ein Lebewesen zu verwandeln, das in die Welt entlassen werden kann.

 

Jede Geburt trägt aber schon im Keim die Erfahrung des kommenden Todes in sich. Deshalb sind Leben und Tod im sexuellen Erleben so innig miteinander verknüpft. Denn es ist Auflösung, die zum Werden führt, das sich im Vergehen bis zur Neige entfaltet, um dann wieder Nährboden für ein neues Werden zu sein. ... so dreht sich das Rad der Jahreszeiten, der Generationen, der entstehenden und schwindenden Galaxien. Die große Göttin, die ja nichts anderes ist als die personifizierte Lebenskraft, wurde deshalb immer als Herrin von Tod und Geburt angesehen - als diejenige, von der Alles kommt und zu der Alles zurück kehren muss. Als sexuelle Göttin ist sie diejenige, die zum Leben verführt und die Mysterien des Todes zu begreifen lehrt. Denn ohne Sexualität gibt es keine Geburt, ohne Geburt gibt es keinen Tod und ohne Tod gibt es keine Wiedergeburt.  Der Tod ist für uns Heiden nichts anderes als eine Geburt in eine andere Welt Deshalb respektieren die heidnischen Religionen den Kreislauf von Geburt und Tod und wollen sich nicht zölibatär entziehen, sondern sagen bewusst ja  - zum Leben und zum Tod. Sie wissen, dass sich Leben immer vom Tode nährt und dass der Tod nur eine andere Form der Vereinigung, der Auflösung im Ganzen, ist.